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Der Computer sagt: Jamaika

Was passiert, wenn man Machine Learning auf die Wahlprogramme loslässt? Wir haben es ausprobiert – und auch überraschende Ergebnisse erhalten.

– von Steffen Kühne, Oliver Schnuck, Robert Schöffel (BR Data)

Wir haben ein Experiment gewagt: Ein lernender Algorithmus hat für uns die Wahlprogramme der großen Parteien zur Bundestagswahl analysiert. Per Machine-Learning haben wir 810 Textabschnitte automatisch bewertet und in Kategorien einsortiert. So lassen sich die Standpunkte der Parteien gegenüberstellen und vergleichen. Eine endgültige Wahrheit kann zwar auch dieses Vorgehen nicht liefern, einige überraschende Ergebnisse haben wir dennoch erhalten.

Unsere wichtigsten Erkenntnisse

  • Union, Grüne und FDP haben sich stark angenähert – die Basis für eine Jamaika-Koalition?
  • Fast alle Parteien sind nach links gerückt, auch CDU/CSU und SPD.
  • Die Linke ist die Partei, die am ehesten eine klare ideologische Linie verfolgt.
  • Die AfD ist durch den Algorithmus schwer zu fassen - ein bekanntes Problem bei populistischen Parteien.

Wie wir vorgegangen sind

Seit 1979 arbeiten Politikwissenschaftler auf der ganzen Welt zusammen, um Wahlprogramme vergleichbar zu machen. Im Manifesto Project kategorisieren sie jede Aussage nach einem festgelegten Schema, das auch eine Einteilung in ideologisch "links" oder "rechts" beinhaltet. Fordert eine Partei beispielsweise mehr internationale Zusammenarbeit, wird das als "links" eingeordnet, der Wunsch nach mehr Sicherheit als "rechts". Unser Algorithmus hat die Programme zur Bundestagswahl 2017 nach den gleichen Vorgaben klassifiziert – also automatisiert die Arbeit übernommen, die Wissenschaftler beim Manifesto Project noch per Hand erledigen werden.

Entwicklung der Parteien seit 2002

Links-Rechts-Einteilung der Parteien aufgrund aller in den Wahlprogrammen getroffenen Aussagen, Quelle: Manifesto Project (2002-2013), eigene Berechnung (2017).

Eines der auffälligsten Ergebnisse, die der Algorithmus ausgegeben hat: Die Sozialdemokratisierung der Union, die der Partei unter Angela Merkel nachgesagt wird, ist auch im Wahlprogramm sichtbar. Dennoch hat sie sich der SPD kaum angenähert, da beide Parteien gleichermaßen nach links gerückt sind. Auffällig ist die Nähe von CDU/CSU, Grünen und FDP. Eine gute Ausgangsbasis für eine mögliche Jamaika-Koalition? Zumindest die Ergebnisse unseres Algorithmus legen dies nahe. Die Linke steht wie zu erwarten am linken Rand, die mittige Position der AfD wird im Folgenden noch genauer analysiert.

Die Themengewichtung der Parteien

Aussagen pro Politikfeld, gewichtet nach Textlänge

Die Wissenschaftler ordnen alle Aussagen in den Wahlprogrammen einem von sechs großen Politikfeldern zu. Unser Algorithmus erledigt dies automatisiert. Das Ergebnis: Alle Parteien messen dem Politikfeld Wohlfahrt und Lebensqualität am meisten Bedeutung bei. Hierzu zählen beispielsweise Aussagen zu Wohlfahrtsstaat, Umweltschutz, Gleichstellung oder Kulturförderung – ein sehr breites Themenspektrum also. Auffällig ist zudem: Die FDP legt überdurchschnittlich viel Wert auf Aussagen zu Wirtschaft, die SPD zu Außenbeziehungen, die CDU/CSU zu Gesellschaftsgefüge.

Die sechs großen Politikfelder bestehen wiederum aus mehreren Unterthemen. Da sich erst an diesen konkrete Forderungen der Parteien ablesen lassen, haben wir für jede Partei die drei meist angesprochenen Themen identifiziert. Hier zeigt sich wenig überraschend, dass die Grünen viel Wert auf Umweltschutz legen, während SPD, Die Linke und AfD sehr häufig soziale Themen ansprechen. Bei der FDP stehen neben ihrem traditionellen Thema Freiheit und Bürgerrechte die Investitionen in Bildung im Fokus. Fast ebenso deutlich setzt sich auch das Regierungsprogramm von CDU/CSU ab, das in vielen Passagen auf Fragen von Infrastruktur und Technologie eingeht – wozu auch Aussagen zur Digitalisierung gehören.

Die drei meist angesprochenen Themen jeder Partei

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CDU/CSU Infrastruktur und Technologie Ausbau des WohlfahrtsstaatesAusbau internationaler Beziehungen
SPD Soziale Gerechtigkeit Ausbau des WohlfahrtsstaatesInfrastruktur und Technologie
Die LinkeSoziale Gerechtigkeit Ausbau des Wohlfahrtsstaates Umweltschutz
Bündnis 90/DIE GRÜNEN Umweltschutz Soziale GerechtigkeitFreiheit und Bürgerrechte
FDPFreiheit und Bürgerrechte Investitionen in Bildung Soziale Gerechtigkeit
AfD Ausbau des Wohlfahrtsstaates Soziale GerechtigkeitFreiheit und Bürgerrechte

Links oder rechts? Es kommt darauf an

Parteien nach links oder rechts einzuteilen, ist nicht immer einfach. Denn sie alle treffen eine Vielzahl von Aussagen, die sich breit über die Links-Rechts-Skala verteilen. Wir haben die Positionen der Parteien deshalb für vier der sechs Politikfelder getrennt untersucht. In den anderen beiden Feldern waren nicht genügend Aussagen vorhanden.

Wohlfahrt und Lebensqualität

Verteilung der Aussagen und Median für jede Partei

Alle Parteien wollen die Rente stärken und Bildung und Kultur fördern. Im Politikfeld Wohlfahrt und Lebensqualität liegen die Positionen deshalb nahe beisammen. Ganz rechts stehen die Grünen und die AfD: Letztere fordert eine deutsche Leitkultur, eine Begrenzung der Zuwanderung und eine Aufhebung des Klimaschutzplans. Nur weil diese Aussagen im Programm wenig Raum einnehmen, steht die AfD hier nicht noch weiter rechts.

Dass die Grünen sich im Vergleich zu anderen Parteien ebenfalls eher rechts bewegen, lässt sich etwa auf die Forderungen nach einer kinder- und familienfreundlichen Politik zurückführen. Positionen, die die Politikwissenschaft eher einer konservativen Politiklinie zuordnet. Allerdings legen die Grünen dabei einen offenen Familienbegriff zugrunde, was unser Algorithmus nicht gewertet hat. Die Linke spricht sich deutlicher als andere Parteien für mehr Investitionen in Bildung und soziale Sicherungssysteme aus, womit sie sich ein Stück weiter links positioniert.

Wirtschaft

Auch im Politikfeld Wirtschaft liegen die Positionen der Parteien eng zusammen. So fordern sowohl Union als auch FDP und AfD einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Die SPD setzt sich für den Industriestandort Deutschland sowie den Mittelstand ein – alles konservative wirtschaftspolitische Forderungen, weshalb die angesprochenen Parteien fast auf einer Linie liegen. Lediglich Die Linke setzt sich deutlich ab – abermals nach links. Die Partei trifft klassisch linke Aussagen zur Regulierung der Finanzmärkte oder einem Privatisierungsstopp. Konservative Aussagen, etwa zu ausgeglichenen Staatsfinanzen oder einer Stärkung des Standortes Deutschland, finden sich in ihrem Programm nicht.

Außenbeziehungen

Im Politikfeld Außenbeziehungen treten die deutlichsten Unterschiede zwischen den Parteien hervor. So sprechen sich etwa Die Linke und die Grünen deutlich für Abrüstung und Friedenspolitik aus, womit sie sich links positionieren. Nicht ganz so viel Gewicht nehmen diese Themen bei der SPD ein, auch wenn sich hier ebenfalls Forderungen nach einer Abrüstung finden. Gleichzeitig möchte die SPD die Bundeswehr modernisieren, womit sie sich in der Mitte einordnet. CDU/CSU und FDP sprechen sich ebenfalls für mehr Investitionen in die Verteidigung aus, was zu einer Position weiter rechts führt. Rechts findet sich auch die AfD wieder, die die Wehrpflicht wieder einführen und die Bundeswehr grundlegend reformieren möchte.

Gesellschaftsgefüge

Forderungen nach mehr Sicherheit und einer effektiven Bekämpfung der Kriminalität zählen die Wissenschaftler zum Politikfeld Gesellschaftsgefüge. Hier sind sich die Parteien scheinbar so nahe wie in keinem anderen Feld. Dass Die Linke allerdings rechte Gewalt bekämpfen will und die AfD explizit Ausländergewalt als Problem ansieht, kann unser Algorithmus nicht unterscheiden. Genauso ist es bei dem Wort "Integration", das die AfD als einzige Partei in einem negativen Kontext einsetzt. Deshalb wird die AfD in diesem Politikfeld fälschlicherweise als links eingeordnet. Dennoch ist auffällig: Sicherheit und der Kampf gegen Kriminalität spielen in allen Wahlprogrammen eine wichtige Rolle.

Die Grenzen des maschinellen Lernens

Parteiprogramme mit einem Machine-Learning-Algorithmus auszuwerten funktioniert zuverlässig, um Themen zu identifizieren. Allerdings hat die automatische Textanalyse Grenzen: Dies wird besonders deutlich, wenn es darum geht, den Kontext einzubeziehen oder Aussagen zu gewichten, die nur wenig Raum einnehmen, aber für die Gesamtbewertung wichtig sind. Das zeigt sich vor allem bei der AfD. Stark von der Norm abweichende Aussagen sowie die Verwendung von Wörtern in einem neuen Kontext können durch den Algorithmus nicht zuverlässig vorhergesagt werden - dabei sind genau das Kennzeichen von populistischen Parteien.